Dr. Oliver Rien: Viele Betroffene warten im Gespräch zunächst ab, ob sie etwas verstehen. Nach fünf Minuten sagen sie: „Ich habe nichts verstanden, weil ich schwerhörig bin.“ Das löst natürlich
Aggressionen aus, weil der Gegenüber sich wundert, warum er nicht zu Beginn des Gespräches darauf hingewiesen wurde. Ein anderer Fehler: Hörgeschädigte nicken oft ab, obwohl sie sich unsicher
sind oder nicht verstanden haben. Sie trauen sich nicht, nachzufragen. Also ein defensives Verhalten in Form der Verstecktaktik.
Auf jeden Fall offensiv. Sie sollten die folgenden fünf Sätze benutzen: „1. Ich bin schwerhörig. 2. Bitte schauen Sie mich beim Sprechen an. 3. Ich muss vom Mund absehen. 4. Bitte sprechen Sie
langsam und deutlich. 5. Und bitte benutzen Sie kurze Sätze.“ Wenn ich diese zu Beginn in das Gespräch einbringe, stelle ich mich als kompetent dar und trage entscheidend zum Erfolg des Gesprächs
bei. Das wird in der Regel von der Umgebung nicht als Stigma oder Schwäche wahrgenommen. Diese Erfahrung müssen Hörgeschädigte machen.
Ich erreiche nur eine Nachhaltigkeit, wenn es nachfühlbar wird. Wenn Jugendliche spüren, wie unsicher sie dabei sind, können sie sich besser vorstellen, wie sich Hörende im Umgang mit
Hörgeschädigten fühlen. Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht den Jugendlichen, sich auf das Thema einlassen. Ich versuche, mit Empowerment soziale und emotionale Kompetenzen und
Identitätsbildung zu stärken.
Das, was ich jetzt predige, lebe ich selbst erst seit 1997. Besonders schwierig für mich war früher das Studium, das war die klassische Verstecktaktik. Das heißt: nicht Bescheid gesagt, die
Technik nicht vorbereitet, beim Nachfragen abgenickt. Damals bin ich nicht offensiv mit meiner Hörschädigung umgegangen.
Damals lernte ich Gebärdensprache, deshalb hatte ich vor allem Kontakt zu anderen Gehörlosen und meinen Freunden von der Schwerhörigen-Schule. Hörende Freunde hatte ich eigentlich keine. Ich
empfand mich gar nicht interessant genug als Gesprächspartner für Hörende. Lieber bewegte ich mich im geschützten Rahmen meines Freundeskreises.
Ich habe mich schon immer als defizitär erlebt. Es ist natürlich anstrengend, sich mit Hörgeschädigten zu unterhalten. Diese Anstrengung weckt das Gefühl, mein Gegenüber würde mich als
Gesprächspartner belastend empfinden. Irgendwann habe ich aber gemerkt, das Zurückziehen bringt nur kurzfristig Vorteile, längerfristig gesehen schadet es mir. Ich merkte, dass ich nur durch
einen offensiven Umgang mit der Schwerhörigkeit langfristig Vorteile haben würde. Das musste ich Schritt für Schritt in verschiedenen positiven Erfahrungen lernen. Schließlich habe ich es
verinnerlicht.
Ein Praktikum im Reha-Zentrum Rendsburg hat mich darin bestätigt, mich auf Hörgeschädigte zu spezialisieren. Das war 1995. Ich merkte, wie gut ich mich als Selbstbetroffener einbringen kann.
Damals habe ich mich entschieden, in den Hörgeschädigtenbereich zu gehen. 2001 bekam ich eine Anfrage vom Deutschen Schwerhörigenbund für ein Schüler-Training. Das war der Einstieg in meine
Empowerment-Seminare. Heute habe ich neben meinem Vollberuf circa 30 bis 40 Seminartermine im Jahr. Der Bedarf ist sehr hoch. Wichtig ist, dass ich durch meine Selbstbetroffenheit eine gewisse
Authentizität weitergeben kann und da ich selbst eine hörgeschädigte Tochter habe, ist das ein wichtiger Bezugspunkt für die Elternarbeit.
Leider haben viele Hörgeschädigte Defizite in der Empathie, weil emotionale Intelligenz über die Kommunikation mit den Eltern gelernt wird. Hörgeschädigte sind oft sehr direkt. Als Hörender fühlt man sich dann vor den Kopf gestoßen. Wenn ich zu Hörenden sage: „Ich bin hörgeschädigt, Sie müssen mich ständig anschauen“, ist das ein enormer Stress für Hörende. Wenn ich aber sage: „Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich schwerhörig bin. Aber wenn Sie mich anschauen, dann klappt das schon“, ist es ein ganz anderer Einstieg ins Gespräch. Alle Kinder lernen über Beobachtung der Eltern und die damit verbundenen kommunikativen Rückmeldungen. Wenn Eltern sagen: „Wir sind sauer auf dich, weil …“, hat das Kind die Möglichkeit zu reflektieren und die Reaktion der Eltern zu verstehen. Dann bekommt das Kind einen Vorschlag, wie es den Fehler das nächste Mal vermeiden kann. Dabei lernt es Empathie. Wenn die Kommunikation nicht funktioniert, sagen die Eltern nur: „Lass das!“
Deshalb bin ich auch ein Verfechter der Gebärdensprache für jedes hörgeschädigte Kind. Aber nicht primär zur Hauptkommunikation, sondern für eine gesicherte Kommunikation zwischen Eltern und
Kind. Was danach passiert, ist sekundär: Profitieren die Kinder von der Technik und kommen gut damit zurecht, werden sie ohnehin bald auf die Gebärdensprache verzichten oder diese nur reduziert
in bestimmten Situationen nutzen. Aber in den ersten sechs Jahren brauche ich eine funktionierende Kommunikation mit den Eltern. Das geht nur über Gebärden, nicht über die Technik alleine. Ich
erlebe auch immer wieder Kinder, die panische Angst davor haben, dass das CI ausfällt. Wenn diese Kinder eine Gebärden-Sprachkompetenz besitzen, könnten sie die Zeit überbrücken. Das gibt ihnen
Gelassenheit.
Eltern sollten ihrem Kind nicht zu viel Leidensdruck abnehmen. Sonst hat das Kind keine Notwendigkeit, sich zu verändern. Eltern sollten zum Beispiel das Licht nicht anmachen oder den Fernseher
laufen lassen, oder auch mal weg sehen beim Sprechen. Also konkret Situationen falsch machen und dann schauen, wie das Kind darauf reagiert. Reagiert es nicht, sollten die Eltern die Situation
auflösen: Das Kind mit seinen Fehlern auf eine angemessene Art konfrontieren. Die Aufgabe der Eltern ist, das Kind auf das Leben vorzubereiten. Sie sollten dem Kind nicht das Gefühl geben: „Wenn
du nicht auffällig bist, ist es gut.“ Oder: „Du musst in dieser Gesellschaft funktionieren.“ Dann haben wir später erwachsene hörgeschädigte Menschen, die an dieser Einstellung krank
werden.
Ich hatte früher, vor der Diagnose meiner Tochter, immer gesagt: Wenn meine Tochter gehörlos wäre, würde ich ihr nie ein CI implantieren lassen. Als sie dann tatsächlich gehörlos war und ich
erlebt habe, welche Veränderungen im schulischen Bereich für gehörlose Kinder stattgefunden haben und welche Nachteile damit verbunden sind, haben wir uns doch für ein CI entschieden. Es gibt
kaum noch Gehörlosen-Schulen, das hat Angst gemacht. Trotz unserer eigenen Hörschädigung waren wir durch die Diagnose traumatisiert. Die eigene Betroffenheit hat zumindest bei uns keinen
schützenden Effekt gehabt.
Wenn ich das nur mit der Hörschädigung erkläre, fühlen sich die Eltern nicht angesprochen. Aber jeder hat schon einmal einen Menschen verloren. Also stelle ich erst die Trauerarbeit bei einem
Verstorbenen dar, dann spüren die Betroffenen, wie es damals war und es gelingt ihnen leichter, dies auf die Hörschädigung zu übertragen. Da geht es wieder um die
Nachfühlbarkeit.
Ja, die Teilnehmer meiner Seminare sagen, sie finden sich wieder. Teilweise weinen Eltern die ganze Zeit während der Seminare. Das heißt, sie befinden sich dann in der Trauerstufe 2, wo sie den
Schmerz erfahren. Oft bekomme ich nach solchen Seminaren bestätigende Mails.
Nein. Die Trauerstufen sind nicht starr, man kann immer wieder in eine vorherige Trauerstufe zurückfallen. Das ist eine lebenslange Arbeit. Es gibt Momente, in denen ich auf Stufe 4 bin; da mache
ich mir keine Gedanken über meine Tochter und deren Hörschädigung. Dann passiert etwas Diskriminierendes oder eine Barriere taucht auf und sofort sind die Gedanken zurück. Auch die Trauerarbeit
von Angehörigen eines Verstorbenen ist nie ganz abgeschlossen.
Richtig. Ich bin in dieser Rolle ja nicht der Psychologe, Wissenschaftler oder Therapeut, sondern der Vater. In diesem Moment reagiere ich wie jeder Vater.
Früher waren Hörgeschädigte meist in sehr einfachen Berufen. Heute kenne ich eine gehörlose Rechtsanwältin, einen gehörlosen Professor, zwei gehörlose Chefärztinnen. Es gibt in vielen Berufen
Vorbilder, die jedem Hörgeschädigten zeigen: Yes, we can! Ich finde die Entwicklung zurzeit sehr positiv. Und wenn ein Gehörloser etwas schafft, sollte es auch ein Schwerhöriger auch schaffen.
Unter den Schwerhörigen gibt es aber leider nicht so viele Vorbilder. Schwerhörige haben nicht diese Gemeinschaft wie Gehörlose. Es gibt Untersuchungen, die besagen: Bei Schwerhörigen ist ein
höherer Leidensdruck vorhanden als bei Gehörlosen. Schwerhörige, die nicht gebärden, haben auch untereinander oft Kommunikationsprobleme.
Ja, nach wie vor. Sie sehen das an der Entwicklung der Hörgeräte-Technik: Die müssen immer kleiner, unsichtbarer, teurer sein. Das heißt: Betroffene sollen ihre Hörschädigung verstecken, sich
zurückziehen. Aber die Industrie reagiert nur auf die Wünsche der Kunden. Bei Spätschwerhörigkeit ist der Wunsch der Kunden: Keiner soll es merken. Und das überträgt sich auf die Jugendlichen.
Hörschädigung ist ein Defizit, so wird es von der Gesellschaft gesehen. Aber es gibt ein Begriff, den ich sehr gut finde: Diversity-Management. Die zentrale Aussage lautet dort: Auch
Nichtbehinderte können von Behinderten lernen und sind eine Bereicherung. Das ist ein ganz konkretes Konzept, das manche Unternehmen bereits umsetzen. Es ermutigt Menschen mit Behinderung, sich
stärker nach außen zu zeigen. Ich wünsche mir, dass dieses Diversity-Management sich noch stärker in unserer Gesellschaft verfestigt.
Das Interview führte Andreas Spengler. Andreas Spengler ist freier Journalist und arbeitet unter anderem für die ZEIT und andere Redaktionen. Wir konnten ihn für eine Reihe von Artikeln und
Interviews als Journalist gewinnen. Unter dem Link: "Im Hörsaal ohne etwas zu hören. - ZEIT, 2013" lässt sich ein weiterer interessanter Artikel von
ihm lesen. Ebenfalls interessant: sein Artikel "Glücksgeräusche".