Wenn Eltern mit kleinen Kindern kommen, sind die Eltern meist bedürftiger als das Kind. Manche Eltern hatten vor der Diagnose überhaupt keinen Verdacht; jetzt müssen sie sich in einer völlig
neuen Situation zurechtfinden. Eine Zeit großer Unsicherheit, voller Schmerz und Trauer. Viele Eltern haben Zukunftsängste und machen sich Sorgen, ob ihr Kind je einen guten Beruf oder einen
Partner oder Partnerin finden wird. Das „Hier und Jetzt“ geht den Eltern verloren.
Die Eltern sind plötzlich Laien. Durch die Diagnose erleben sie zunächst einen großen Kompetenzverlust. Sie fühlen sich getrennt von ihren Kindern, weil sie nicht wissen, wie sich deren
Lebensrealität anfühlt. Eltern reagieren darauf sehr unterschiedlich. Von Aktionismus bis Depression gibt es alle möglichen Reaktionen. Manche Eltern beginnen ganz viel Fachliteratur zu lesen, um
wieder Kontrolle über die Situation zu gewinnen. Andere fühlen sich wie gelähmt und sind tieftraurig. Meine Aufgabe sehe ich darin, die Eltern zu begleiten und zu beraten, damit sie selbst die
richtigen Entscheidungen für ihr Kind treffen können.
Beim ersten Termin ist es mir wichtig, dass Mutter und Vater dabei sind. Die Therapie funktioniert nicht ohne die Eltern, auch nicht im späteren Verlauf. Auch Geschwister dürfen ab und zu zur
Therapie mitkommen, denn auch für sie ändert sich das Leben durch die Diagnose. Alle sollen die Informationen aus erster Hand bekommen und die Fragen diskutieren können, die sie beschäftigen. Ich
möchte das Familiensystem mit seinen Möglichkeiten kennenlernen. Die wichtigste Eingangsfrage ist: „Wie geht es Ihnen jetzt?“, das heißt, die Befindlichkeit zu erfassen. Dann lasse ich ihnen Raum
für Fragen. Zwei Fragen beschäftigen die Eltern meist besonders: Wird mein Kind mich je hören und verstehen? Und wird mein Kind sprechen lernen?
Dass ich zunächst keinen Grund sehe, warum das nicht so sein sollte. Wenn die Hörschädigung früh erkannt wurde und keine weiteren Erschwernisse vorliegen, haben die Kinder beste Voraussetzungen,
eine gute Lautsprache entwickeln zu können. Das entspricht meiner langjährigen Erfahrung. Oft biete ich auch Kontakt zu anderen betroffenen Familien an. Diese Kontakte tun Eltern und Kindern
meist sehr gut, weil sie erleben, dass sie mit dem Thema Schwerhörigkeit nicht allein sind.
Ich muss mit dem Kind gar nicht so viel arbeiten. Bei Kindern im Säuglingsalter tun wir im Grunde das, was die Eltern zuhause auch tun würden. Wenn die Mutter bei mir ankommt und das Kind schläft
gerade, dann wecke ich es nicht auf. Dann unterhalte ich mich mit der Mutter. Frage sie, wie es ihr geht. Ob das Kind die Hörgeräte toleriert und ob die Familie erste Veränderungen oder
Hörreaktionen erlebt. Oftmals sind die Reaktionen so klein und unauffällig, dass sie von den Eltern noch gar nicht bemerkt werden.
Innehalten, Augenweiten, Erschrecken, Lächeln oder Weinen können Hörreaktionen sein. Zum Beispiel hält das Baby, das gerade am Schnuller saugt, kurz im Nuckeln inne, wenn das Telefon klingelt.
Eltern brauchen diese Informationen, um auch kleine Reaktionen und Veränderungen zu erkennen.
Manche Eltern werden sehr still, weil ihnen die Rückmeldung durch die Kinder fehlt. „Seit ich weiß, dass er mich noch gar nicht hört und versteht, fällt es mir schwer überhaupt noch zu sprechen“,
sagte eine Mutter. Hier braucht es Ermutigung, wieder mehr zu sprechen. Andere Eltern bieten ihren Kindern im Bemühen sie zu fördern zu viel an. Doch auch hörgeschädigte Kinder brauchen Pausen
und Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten und darauf zu reagieren. Später wirkt es eher hemmend, Kinder direkt zu korrigieren oder viel zum Nachsprechen aufzufordern. Das ist keine natürliche,
lebendige Kommunikation.
Genau. Das Sprechen findet ja ständig statt im Alltag. Bei einem normal hörenden Kind schaffen wir auch keine künstlichen Situationen. Die Hörgeschädigten-Pädagogin Morag Clark hat einmal gesagt:
„Hörgeschädigte Kinder brauchen nicht mehr vom Besonderen, sondern mehr vom Normalen.“
Mein Lieblingsbeispiel dafür, wie kostbar der Alltag sprachlich ist, ist der Wäschekorb. „Wem gehören denn die kleinsten Socken?“ „Uii, wie ist das Loch da reingekommen?“ Dativ, ein Superlativ,
verschiedene Fragewörter – das gemeinsame Tun im Alltag bietet alles, was wir für die Sprachentwicklung brauchen. Spannend ist auch das Kochen. Da entstehen ganz viele Geräusche. Statt Spielzeuge
zu kaufen, die Geräusche machen, empfehle ich den Eltern erstmal die Alltagsgeräusche mit ihrem Kind zu entdecken, denn die vermitteln Sicherheit und Geborgenheit.
Ich versuche, immer das Interesse des Kindes aufzugreifen. Wenn ein Kind sich besonders für Autos interessiert, lernt es am einfachsten Wörter, die mit Autos zu tun haben. Das ist wie beim
Erlernen einer Fremdsprache. Häufig arbeiten wir mit Bildern, besprechen Alltagserlebnisse, auch Ängste und Sorgen mit den Kindern. Dadurch erweitern sich nach und nach die sprachlichen
Kompetenzen. Die Botschaft dabei ist: Das, was das Kind beschäftigt, ist würdig und wert, kommuniziert zu werden. Über die Sprache erlernen die Kinder Selbstwirksamkeit und Selbstausdruck.
Die Eltern sind immer dabei und selbst aktiv!
Jeder Mensch möchte sich ausdrücken können. Dafür gibt es viele Möglichkeiten, aber die Gängigste ist eben die Sprache. Wenn ein Kind mit dem Finger auf etwas zeigt und etwas dazu sagt, dann
reagieren andere Menschen darauf. Das heißt, das Kind verändert über Sprache seine kleine Welt. Sprache und das Erleben der Selbstwirksamkeit sind eng aneinander geknüpft.
Leider ist das Thema „Gebärde - ja oder nein“ bis heute ein hochemotionales Thema, das oft mit unnötiger Härte diskutiert wird. Gebärdensprache (DGS) ist eine hochkomplexe und wunderbare Sprache.
Es ist schwierig, sie innerhalb kurzer Zeit wirklich gut zu lernen. Ich kenne einige Gebärden, bin aber meilenweit von wirklicher Gebärdensprachkompetenz entfernt. Über 90 Prozent aller
schwerhörigen Kinder haben hörende Eltern, deren Muttersprache ist die Lautsprache. Diese Eltern haben den völlig berechtigten Wunsch, dass sie mit ihren Kindern in dieser Sprache kommunizieren
können, denn das ist ihre Herzenssprache und die Sprache, die sie beherrschen. Darin kann ich sie mit meinen Kompetenzen unterstützen. Wenn Familien für und mit dem Kind DGS lernen wollen,
brauchen sie unbedingt eine Therapeutin/Lehrerin, die DGS fließend beherrscht.
Ja, ganz vieles. Ich bin immer wieder begeistert über die Freude der Kinder, ihren Wissensdrang und die Offenheit und Neugierde, mit der die Kinder im Leben stehen. Schwerhörige Kinder sind so
freundliche Menschen, trotz vieler Frustrationen. Das berührt mich immer wieder sehr. Und die Eltern sind für mich die wichtigsten Lehrmeister gewesen. Von ihnen habe ich gelernt, zu schauen, was
wirklich wichtig ist für das Kind. Vor allem an den Eltern messe ich die Qualität meiner Arbeit. Wenn die Eltern sagen, es hat ihnen geholfen, dann bin auch ich mit meiner Arbeit
zufrieden.
Das Interview führte Andreas Spengler. Andreas Spengler ist freier Journalist und arbeitet unter anderem für die ZEIT und andere Redaktionen. Wir konnten ihn für eine Reihe von Artikeln und
Interviews als Journalist gewinnen. Unter dem Link: "Im Hörsaal ohne etwas zu hören. - ZEIT, 2013" lässt sich ein weiterer interessanter Artikel von
ihm lesen. Ebenfalls interessant: sein Artikel "Glücksgeräusche".